S. A. Cockerill / CMI - Teil 1: John Cockerill und sein Unternehmen


Der britische Unternehmer John Cockerill (1790-1840) stammte aus bescheidenen Verhältnissen und erhielt nur eine rudimentäre Grundschulbildung. Im Alter von 9 Jahren folgte er seinem Vater ins belgische Verviers, einem Zentrum des Tuchmachergewerbes, das hier aufgrund des "weichen Wassers" angesiedelt war. 1807 gingen die Cockerills nach Lüttich, wo sie eine Produktion für Textilmaschinen aufbauten. John Cockerill übernahm 1813 gemeinsam mit seinem Bruder James den väterlichen Betrieb. Als neuer Produktbereich wurde der Bau von Dampfmaschinen aufgenommen, die zuvor nur aus England importiert werden konnten. Dampfmaschinen dieser Zeit fanden vielfältige Anwendungen in Spinnereien, im Bergbau sowie als Schiffsantrieb.

Da die lokalen Märkte bald eine Sättigung zeigten, dehnten die Cockerills die geschäftlichen Aktivitäten über die Grenzen ihrer Wahlheimat hinaus aus. Ein besonders lebhaftes Interesse begegnete den Brüdern in Preußen, wo man sich von ihrer Expertise entscheidende Impulse für die eigene Wirtschaft versprach. Hier mangelte es u.a. an technisch versiertem Personal zur Bedienung von Dampfmaschinen. Die Cockerills eröffneten 1815 in Berlin eine moderne Wollspinnerei und Maschinenfertigung im ehemaligen Kunheimschen Kasernengebäude in der Neuen Friedrichstraße 26-28 (heute Littenstraße). Die "Maschinenbau-Anstalt und Wollenmanufactur von Ch. James und John Cockerill" brachte in den folgenden Jahren den gewünschten know how-Transfer und wurde damit zur Initialzündung für Berlin als Standort von Maschinenbau und Industrie. Das Unternehmen wurde 1832 nach einem Brand aufgegeben.

Die Brüder Cockerill kehrten 1817 nach Belgien zurück und erwarben das Schloß in Seraing bei Lüttich von König Wilhelm I. von Oranien. Zu dessen "Vereinigten Königreichs der Niederlande" zählte damals auch Belgien. Die Liegenschaft befand sich in einem Gebiet mit reichen Vorkommen an Steinkohle und Eisenerz. Hier gründeten die Brüder die "Société Cockerill", die sich zu seinerzeit Europas größtem Hütten- und Maschinenbaubetrieb mit rund 2.500 Mitarbeitern entwickelte. 1823 zog sich James Cockerill aus dem Unternehmen zurück, das nun als "John Cockerill & Co." firmierte. Einige der freigewordenen Firmenanteile übernahm König Wilhelm I, wodurch John Cockerill nun eine großzügige finanzielle Unterstützung genoß und verschiedene Großaufträge gewinnen konnte. Ab 1824 lieferte Cockerill auch Schiffe, für deren Bau er eine Werft in Antwerpen errichtete, die u.a. für die Niederländische Marine arbeitete.

John Cockerills lukratives Verhältnis zur Macht endete mit der Belgischen Revolution von 1830, in deren Verlauf sich Belgien aus dem Vereinigten Königreichs der Niederlande löste und seine Souveränität erlangte. Wilhelm I. von Oranien zog sich aus dem Unternehmen zurück und John Cockerill übernahm 1834 dessen Anteile. Zeitgleich nahmen die Pläne Gestalt an, Belgien mit einem Eisenbahnnetz zu erschließen. Für die 1835 eröffnete erste Strecke Brüssel-Mechelen lieferte Cockerill die Schienenprofile und die Lok "LE BELGE" (Der Belgier). Dessen ungeachtet geriet Cockerill durch die anhaltende politische Unsicherheit der Zeit und der daraus folgenden Bankenkrise in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten. Als die Belgische Bank 1839 ihre Zahlungen einstellte, wurde gegen das Unternehmen die Liquidation eingeleitet, die Cockerill aber ablehnte. Getreu seinem Motto "Mut bis zum Ende" kämpfte er mit aller Kraft für sein Lebenswerk und warb in St. Petersburg für den Bau von Eisenbahnen in Rußland. Auf der Rückreise verstarb er 1840 überaschend an Typhus in Warschau.

Nach dem Ableben von John Cockerill wurde das Unternehmen gründlich umstrukturiert und als "Société Anonyme des Etablissements John Cockerill" (kurz: "S. A. Cockerill") neu aufgestellt. Dank glücklicher Führung und innovativer Technik übertraf das Unternehmen schon bald den verlorenen Glanz und erschloß international neue Märkte. So wurde die Stahlproduktion mit Kokshochöfen und dem Bessemer-Verfahren modernisiert. Die Werft wurde 1847 nach Hoboken an der Schelde (nicht zu verwechseln mit Hoboken, New Jersey) als "Cockerill Yards" verlegt. Hier wurden bis 1959 rund 800 Schiffe gebaut, darunter Kriegsschiffe, Fahrgastschiffe und Hochseefrachter sowie fast alle Schiffe der "Compagnie Maritime Belge du Congo". Die Eisenbahnsparte florierte ebenfalls. Ab den 1920er (?) Jahren gehörten auch Geschütze und Panzer zum Lieferprogramm des Cockerill-Konzerns. Langfristig entwickelte sich bei der S. A. Cockerill die Stahl- und Kohleproduktion zum Hauptstandbein, das über den Maschinenbau dominierte.

Nach 1945 begann für den Cockerill-Konzern eine bewegte Zeit, die durch die Übernahme zahlreicher anderer Betriebe, Ausgliederung von Teilbereichen und mehreren Namensänderungen geprägt war. 1981 wurde die Fusion mit "Hainaut-Sambre" zum größten Stahlkonzern Belgiens vollzogen und das Unternehmen als "Cockerill-Sambre S. A." umfirmiert. 1998 wurde das Unternehmen von der französischen "Usinor"-Gruppe gekauft, die ihrerseits 2002 im "Arcelor"-Konzern aufging. 2006 wurde das Unternehmen von der indisch-niederländischen "Mittal Steel Company N.V." übernommen und damit Teil der "ArcelorMittal" mit Sitz in Luxemburg.

Bereits 1981 wurde der Bereich Maschinen- und Anlagenbau aus der Cockerill-Sambre S. A. ausgegliedert und als 100 %-ige Tochter "Cockerill Mechanical Industries" (CMI) weiter geführt. Das Unternehmen wurde in die Geschäftsbereiche Energietechnik (Dampfkessel), Wehrtechnik (Geschütze, gepanzerte Fahrzeuge), Industrietechnik (Anlagenbau), Umwelt und Services (Lokomotiven) gegliedert. 2002 wurde die CMI an private Investoren veräußert und 2004 als "Cockerill Maintenance & Ingénierie" (CMI) umfirmiert. Am 16. Mai 2019 wurde CMI offiziell in "John Cockerill Group" umgetauft und zählte rund 4.600 Mitarbeiter. Im Übrigen verblieb auch das Schloß von Seraing im Besitz des Konzerns, der das "Château Cockerill" 2017 anläßlich des 200. Firmenjubiläums aufwendig restaurieren ließ.


Übersicht
Teil 1: John Cockerill und sein Unternehmen
Teil 2: Lokomotivbau bei Cockerill


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