1.4 Borsig Unternehmenskultur
Arbeiten bei Borsig:
Als August Borsig sein Unternehmen gründete, konnte er kaum auf Fachpersonal
zurückgreifen, da seine Mitarbeiter einen handwerklichen
Hintergrund hatten oder aus der Landwirtschaft kamen. Die
industrielle Arbeit war in Preußen ohne Vorbild und mußte
von allen Beteiligen neu gelernt werden. Dabei stellte die
maschinelle Produktion bisher nicht gekannte Anforderungen an
Disziplin, Leistung und insbesondere an die Einhaltung der
Arbeitszeiten. Tatsächlich beschäftigte das Problem der
Pünktlichkeit das Unternehmen über viele Jahre und
Zeitzeugen bemängelten Verhältnisse, bei denen "...
das geisttödtende System der getheilten Arbeit herrscht..."
(Springer 1854). Demgegenüber standen im Vergleich zum Handwerk
hohe Löhne, die durch Überstunden und Akkordzulagen
aufgestockt werden konnten. Die leitenden Mitarbeiter wurden als
"Beamte" bezeichnet (vergleichbar Angestellte), die ein
fixes Jahresgehalt mit Provisionen sowie Kündigungsfristen
erhielten. Der Großteil der Belegschaft bestand aus Arbeitern
mit unterschiedlichen Qualifizierungen sowie ihren Meistern, die bei
Bedarf kurzfristig entlassen werden konnten. Die einzelnen
Werkstatteinheiten waren für die pünktliche Fertigstellung
ihrer Aufträge weitgehend selbst verantwortlich und über
entsprechende Lohnzulagen war letztendlich jedem Mitarbeiter auch
seine eigene Verantwortung bewußt. Damit entfiel die
Notwendigkeit für einen aufwendigen Kontrollmechanismus, was
viele Zeitgenossen überraschte. Über allem wachte als
höchste Instanz der Eigner selbst mit Strenge und Gerechtigkeit.
August Borsig sah sich auch in der Fürsorgepflicht gegenüber seinen
Mitarbeitern in dem Bewußtsein, diese nicht nur mit
finanziellen Anreizen an sein Unternehmen zu binden. Er führte
Kranken-, Sterbe- und Unterstützungskassen ein, lange bevor
diese zum gesetzlichen Standard wurden. In Folge der bürgerlichen
Revolution von 1848 verbesserte er die Arbeitsbedingungen weiter
durch höhere Löhne und verkürzte Arbeitszeiten.
Durchaus im eigenen Interesse betrieb er nun auch eine
Ausbildungswerkstatt für Lehrlinge und eröffnete ein
Kantine. So ließ sich die Einhaltung der Pausenzeiten besser
kontrollieren und es wurden die Familienangehörigen aus den
Werkstätten herausgehalten, wo sie bisher die Mahlzeiten
abgeliefert hatten. In diesem Gefüge entstand eine Belegschaft,
die sich stark mit dem Unternehmen identifizierte. Man sah sich nicht
als Arbeiter oder Handwerker, sondern verstand sich als
"Maschinenbauer", einem eigenen Stand. Der
Unternehmenspatriarch wurde ehrerbietungsvoll "Vater Borsig" genannt.
Auch die folgenden Borsig-Generationen sahen sich in der Pflicht, für das
Wohlergehen ihrer Belegschaft zu sorgen und diese möglichst an
das Unternehmen zu binden. Sie setzten hierzu auf freiwillige
Unternehmensleistungen sowie auf firmeneigene Stiftungen für ein
Altersheim und Kinderhorte sowie auf verschiedene Unterstützungs-
und Pensionskassen. Während der schlechten Versorgungsanlage im
Ersten Weltkrieg wurden Gartenparzellen zur Eigenbewirtschaftung
bereit gestellt und ein Werkskonsum für dringend benötigte
Waren eröffnet. Dabei verlor man allerdings auch nie die
betriebliche Flexibilität aus den Augen und stand dem gesetzlich
verankerten Arbeitnehmerschutz oder Tarifvereinbahrungen kritisch
gegenüber. Als ideales Ziel galt eine friedliche
"Werkgemeinschaft" zwischen Arbeitgeber und Belegschaft,
die zum Wohle des Ganzen - des Unternehmes - wirkte und jeden nach
seiner Leistung entlohnte. Die Schwachstelle dieses Systems lag in
der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens, was sich insbesondere in
den 1920er Jahren zeigte, als schmerzhafte Einschnitte unvermeidlich
wurden. Letztendlich waren trotz des ausgeprägten sozialen
Engagements die umfangreichen Wohlfahrtsaufwendungen kein
Alleinstellungsmerkmal des Hauses Borsig. Bei einem Vergleich aus dem
eigenen Hause wurde 1928 festgestellt, daß man hier zwar mehr
leistete als Krupp, gegenüber AEG und Siemens-Schuckert aber
zurückstand. Die Arbeit bei Borsig war also genau so eine üble
Schinderei, wie bei allen anderen Maschinenbauern ihrer Zeit auch, und
so nölte die "Berliner Schnauze" (= Volksmund) um 1900:
Wer nie bei Siemens-Schuckert war,
Bei AEG und Borsig,
Der kennt des Lebens Jammer nicht,
Der hat ihn erst noch vor sich.
Selbstbild und Festkultur bei Borsig:
Als interessanter Indikator für das sich wandelnde Selbstbild des Hauses Borsig
läßt sich die Enwicklung der Festkultur beobachten. Wie
andere Unternehmen auch, feierte man bei Borsig intern runde
Jahreszahlen des Bestehens und der Betriebszugehörigkeit
einzelner Mitarbeiter. Ungewöhnlich war dagegen die Ausrichtung
von Feierlichkeiten von Produktionsjubiläen anläßlich
des Erreichens runder Werksnummern von Lokomotiven. Diese Feste
wurden in den frühen Jahren aufwändig in der Öffentlichkeit
begangen und zur Kommunikation des eigenen Selbstverständnisses
genutzt. Die Anlässe dienten gleichermaßen der
Außendarstellung wie auch als Ausdruck der Firmenidentität
zur Motivation und Bindung der Mitarbeiter.
1846: Lok 100 "DIOSKUREN" wurde mit einer betriebsinternen Feier
gewürdigt, wobei August Borsig ein großes Fest zum
Erreichen der Werksnummer 500 ankündigte.
1854: Lok 500 "BORSIG" wurde mit einem großen Fest begangen, über
das die Presse ausführlich berichtete. Die Arbeiter polierten
die Lok auf eigene Rechnung auf Hochglanz und schmückten sie mit
Tannengrün. August Borsig betonte in seiner Festrede die
Gemeinschaftsleistung aller Mitarbeiter seines Unternehmens, die den
Erfolg hatte wahr werden lassen. Stolz stimmte man "Heil dem
Maschinenbau" auf der Melodie von "Heil Dir im Siegerkranz"
an (preußische Volkshymne, ihrerseits auf der Melodie des
englischen Volksliedes "God save George the King"
gesungen). Der Abend gipfelte mit einem Empfang im Veranstaltungspalast
"Kroll-Oper" im Tiergarten mit 2.200 geladenen Gästen.
1858: Lok 1.000 "BORUSSIA" wurde laut Zeitzeugen mit einem Fest von
"wahrhaft fürstlicher Freigiebigkeit" gefeiert, von
dem Zeitschriften wie die "Die Gartenlaube" ausführlich
berichteten. In seiner Ansprache im Werk am Oranienburger Tor hob
Albert Borsig die kulturhistorische Bedeutung der Industrie als
Quelle allgemeinen Wohlstands und gesellschaftlich einende Kraft
hervor. Mit Blick auf den Exportmarkt bekannte er nationalen Stolz im
friedlichen Wettstreit der Völker um den technischen
Fortschritt. Jeder der rund 3.000 Mitarbeiter erhielt eine Gedenkmedaille aus Bronze, die am Festtag
stolz am Revers getragen wurde. Nach der Verabschiedung der Lok durch die Betriebsangehörigen und
geladenen Gäste wurden die Feierlichkeiten in Moabit
mit einem Volksfest fortgesetzt, an dem rund 30.000 Menschen
teilnahmen. Ein langer Festzug unter dem Motto "Wunder des
Dampfes" führte mit Darstellern und geschmückten Wagen
die Segnungen der Dampftechnik humoristisch vor, beginnend mit
antiken Göttermotiven und gipfelnd in der 1000. Borsiglok.
Ein Tempel mit einer kolossalen Büste August Borsigs erinnerte an den Firmengründer.
In den Abendstunden wurde das Festgelände von unzähligen
bunten Lichtern illuminiert, den Abschluß bildete ein großartiges Feuerwerk.
1862: Das 25. Firmenjubiläum wurden im kleinen Rahmen mit einem Festakt
für Beamte des Unternehmens und Ehrengäste in der Chausseestraße
begangen. Albert Borsig nannte es ein Fest der Zusammengehörigkeit
und der Erinnerung, gleichzeitig beschwor er eine friedliche Zukunft
in Wohlstand und nationaler Einheit. Am Nachmittag gab es einen
Empfang für alle Mitarbeiter inkl. deren Familien im Garten des
Victoria-Theaters sowie eine Abendveranstaltung für rund 1.000
geladene Teilnehmer. Gegeben wurde das von Rudolf Löwenstein
verfaßte Schauspiel "Zu Borsig´s Fest, zum Fest der
Elemente", in dem Gottheiten aus dem römischen Pantheon
zusammenfanden, um dem Namen Borsig zu huldigen.
1902: Lok 5.000 (KPEV Stettin 41, Typ S3) wurde durch ein Fest mit Musik und
Bewirtung im Zoologischen Garten gewürdigt, zu dem sich rund
5.300 Mitarbeiter sowie 300 geladene Gäste in Sonderzügen
der Straßenbahn einfanden. Auch hier wurde in den Ansprachen
die Tradition des Hauses und die Zusammengehörigkeit
hervorgehoben. Insgesamt fiel der Ton im Vergleich zu früheren
Feierlichkeiten aber deutlich sachlicher aus, was u.a. in zunehmenden
Gewerkschaftsaktivitäten begründet sein mochte. Alle
folgenden vollendete Tausender-Nummern der Lokomotiven wurden mit
vergleichsweise bescheidenen Feierlichkeiten gewürdigt.
1912: Das 75. Firmenjubiläum wurde mit einem Festakt im Kasino des Werks in
Tegel begangen, zu dem alle Mitarbeiter sowie Ehrengäste geladen
waren. Am Abend folgte ein Diner für etwa 450 Gäste im
Hotel Kaiserhof in Berlin. In den Reden wurde wieder die Tradition
des Unternehmens gelobt, dagegen wurde die früher betonte
Gemeinschaftlichkeit durch Begriffe wie Pflichterfüllung,
Willensstärke, preußische Tradition und Nationaler Stolz ersetzt.
Alle späteren Werksjubiläen fanden nach der Insolvenz des Hauses Borsig statt
und wurden von den jeweiligen Nachfolgeunternehmen begangen.